Im Solidaritätsgetümmel
Stefan Wallaschek
Sprechen wir über Krisenzeiten, sprechen wir auch über Solidarität. Die europäischen Gesellschaften setzen sich gegenwärtig gleich mit zwei Krisen auseinander. Genauer gesagt, setzt sie sich mit der Krise um die Bewältigung des Corona-Virus COVID19 sehr intensiv auseinander, während die zweite Krise immer nur noch dann Aufmerksamkeit bekommt, wenn aus der Krise ein handfestes humanitäres Desaster in den Fluchtlagern in Griechenland wird. Nichtsdestoweniger eint beide Krisen die diskursive Anrufung von Solidarität.
Ich möchte argumentieren, dass wir es hierbei mit zwei verschiedenen Typen von Solidarität zu tun haben, die mit Kurt Bayertz Gemeinschaftssolidarität und Kampfsolidarität genannt werden können. Erstens werde ich argumentieren, dass die Solidaritätsdebatte in der COVID19-Krise starke Züge der Gemeinschaftssolidarität aufweist, während solidarische Appelle in der Migrationskrise starke Parallelen zur Kampfsolidarität zeigen. Zweitens werde ich argumentieren, dass beide Typen sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern eher auf einem Kontinuum zu verorten sind. Ein Wechselspiel dieser zwei Solidaritäten würde es ermöglichen, die Potentiale und Grenzen der Solidaritätssemantik auszuloten. Soll eine Solidaritätserstarrung vermieden werden, müsste aus Kampf- Gemeinschaftssolidarität werden können und vice versa. Wird Gemeinschaftssolidarität zu sehr fixiert, wird sie regressiv; erstarrt die Kampfsolidarität, wird sie zum Selbstzweck und zur bloßen propagandistischen Parole.
Solidarität zwischen Gemeinschaft und Kampf
Kurt Bayertz sortiert in seinem viel zitierten Aufsatz ‚Begriff und Problem der Solidarität‘ von 1998 die wissenschaftliche Solidaritätsdebatte in zwei Bereiche. Die Gemeinschaftssolidarität basiert auf geteilten Interessen, gemeinsamen kulturellen Merkmalen o.ä. der Mitglieder einer Gruppe. Dabei wird die Partikularität der Gruppe durch ein Wesensmerkmal ausgedrückt, und durch diese Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit wird eine solidarische Beziehung zwischen den Gruppenmitgliedern hergestellt. Diese Art der Gemeinschaftsbildung findet sich v.a. im Nationalstaatsbildungsprozess, aber auch in gegenwärtigen Gesellschaften, wenn auf bestimmte kulturelle oder sozio-politische Merkmale wie die Staatsbürgerschaft/citizenship verwiesen wird, um an die Solidarität der Mitbürger*innen zu appellieren. Die Kampfsolidarität hingegen rekurriert auf bestehende Ungerechtigkeiten und auf die Konflikte, die sich daraus ergeben. Sie appelliert an alle und besonders die (sozial, ökonomisch wie politisch-rechtlich) besser Gestellten, sich zu engagieren, um die Erweiterung von Rechten für alle herzustellen. Der Kampfsolidarität geht es also um eine solidarische Beziehung jenseits der eigenen Gruppe mit dem Ziel, rechtlose oder entrechtete soziale Gruppen und Individuen in ihrem Kampf um Anerkennung und Gleichstellung zu unterstützen. Die solidarische Beziehung ergibt sich demnach nicht aufgrund ähnlicher Wesensmerkmale wie bei der Gemeinschaftssolidarität, sondern aufgrund gemeinsamer Zielvorstellungen.
COVID oder Moria/Lesbos
Übertragen wir diese Solidaritätstypen auf die Debattenlage rund um die COVID-Krise und die Migrationskrise, werden die Unterschiede trotz gemeinsamer diskursiver Referenz auf Solidarität deutlich. In der COVID-Krise geht es gerade nicht um die Ausweitung von Rechten, um den Kampf gegen Ungerechtigkeiten im Gesundheitssystem oder die sozio-ökonomischen Folgen für die Schwachen und sozial Marginalisierten wie Obdachlose oder körperlich oder geistig beeinträchtige Menschen. Besonders in der Anfangszeit, als COVID ausschließlich in China auftrat, zeigte sich ein teils latenter, teils offener Alltagsrassismus, der klar markierte, wer die Gemeinschaftssolidarität erfahren soll und wer nicht (Weiße Menschen gegenüber asiatisch aussehenden Personen). Ähnliches erfährt man aus Flüchtlingsunterkünften, in denen trotz positiven COVID-Tests kaum Schutzmaßnahmen ergriffen werden und an eine Schließung dieser Orte von behördlicher Seite nicht gedacht wird. Obendrein mangelt es an EU-weiten Solidaritätsmaßnahmen, während die nationalen Exekutiven den Nationalstaat als Referenzrahmen nutzen, um die Bürgerinnen und Bürger anzurufen, sich mit ihren Mitbürger*innen zu solidarisieren und gewisse Verzichte hinzunehmen wie die Einschränkung eines bestimmten Konsumverhaltens oder gewisser bürgerlicher Rechte und Freiheiten. Obwohl sich also gleichzeitig viele solidarische Praktiken besonders auf lokaler Stadtteilebene zeigen und sich teils starke Unterstützungs- und Gemeinschaftsnetzwerke bilden, um sich solidarisch mit anderen zu zeigen, tragen diese doch exklusive Züge und verfestigen im nationalstaatlichen Rahmen soziale Grenzziehungen.
In der Migrationskrise wiederum zeigen sich wenig Anzeichen für eine wie auch immer definierte gefestigte soziale Gruppe, die sich untereinander solidarisch zeigt (sieht man von der abstrakten Idee einer globalen Solidarität einmal ab). Vielmehr zeigen sich Menschen mit den Geflüchteten auf den griechischen Inseln solidarisch, weil sie den gemeinsamen Kampf gegen ungerechte und ungleiche Zugangsbedingungen für Menschen nach Europa teilen und bestehende (rechtlose) Zustände kritisieren. Zumeist geht es dabei nicht nur um bessere soziale Zustände in den Flüchtlingslagern, sondern auch um eine Entkriminalisierung von Menschen auf der Flucht und einen gleichen Zugang zum Recht auf Asyl, so wie es in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Menschenrechtserklärung kodifiziert ist. Die Kampfsolidarität setzt damit auf die Mobilisierung und Empathiefähigkeit jenseits der eigenen Gruppe, ohne eine reziproke Solidarbeziehung wie in der Gemeinschaftssolidarität zu (er)fordern.
Wider erstarrte Solidaritätsdynamiken
Mit dieser Differenzierung wäre das Solidaritätsfeld bestellt und etwas begriffliche Ordnung in das aktuelle Solidaritätsdickicht gebracht. Ich möchte jedoch jenseits dessen noch auf eine begriffliche Dynamik hinweisen, die Konsequenzen für das solidarische Miteinander hat. Ich möchte argumentieren, dass Gemeinschafts- und Kampfsolidarität einander insofern bedingen, als dass sie stets im Wechselspiel auftreten sollten, weil sie nur dann ihr emanzipatorisches Potential und den normativen Horizont der Solidarität aufzeigen können.
Erstarrt nämlich die Gemeinschaftssolidarität in Form der national verfassten Gesellschaften, dann bekommt sie regressive Züge. Sie wird zunehmend exklusiver in der sozialen Grenzziehung und schränkt Formen der Selbstbestimmung in der Gemeinschaft stärker ein. Gründe hierfür können soziale Ängste, vermeintliche Bedrohungen von außen oder interne Konflikte um die Gemeinschaftsverfassung sein. Sie könnten zu Entsolidarisierungen in der Gemeinschaftssolidarität führen. An Tendenzen des Wohlfahrtschauvinismus in vielen west- und nordeuropäischen Ländern zeigen sich bereits diese ausschließenden Praktiken der Gemeinschaftssolidarität. Aber auch die Kampfsolidarität ist vor einer Erstarrung nicht gefeit. Wird unentwegt für andere mobilisiert, dann kann die Mobilisierung zum Selbstzweck werden. Sowohl das Ziel des Erkämpfens von Rechten für andere als auch die Bekämpfung von Ungerechtigkeiten könnten so der Gefahr der Selbstvergewisserung der eigenen richtigen Moralvorstellung unterliegen. Die Kampfsolidarität könnte zur diskursiven Parole und zum Scheingefecht verkommen, politische und gesellschaftliche Verhältnisse aus dem Blick geraten.
Anstatt beide Solidaritätstypen als Reinformen zu verstehen, plädiere ich vielmehr für eine Dynamisierung beide Typen. Die Gemeinschaftssolidarität sollte mehr Kampfsolidarität sein, um die sozialen Grenzziehungen sowie die Konflikte um die (erkämpften) Rechte in der Gemeinschaft zu reflektieren. Die Kampfsolidarität hingegen müsste sich in Fragen der Subjektivierung und der Herausbildung kollektiver Identitäten der Gemeinschaftssolidarität annähern, um selbstreferentielle und paternalistische Züge zu vermeiden. Gelingt diese semantische Dynamisierung, könnten beide Solidaritätstypen auch begriffspolitisch sowohl in der COVID19- als auch in der europäischen Migrationskrise eine Rolle in der öffentlichen Debatte spielen. Denn das in beiden Krisen Solidarität gefragt ist, um die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse gleicher, gerechter und freier zu gestalten, ist unstrittig.
Stefan Wallaschek ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsverbund SOLDISK (Solidaritätsdiskurse in Krisen) an der Universität Hildesheim.