Die „Corona-Sünder*innen“ und die Problematik moralischer Bewertung
Thomas Steinforth
Corona-Krisen-Zeiten sind Hoch-Zeiten der Ermahnung und Entrüstung. Wer sich nicht an die Regeln zum Beispiel bezüglich des „Social Distancing“ hält, muss mit heftigen Reaktionen rechnen, insbesondere mit moralischen Negativ-Bewertungen.
Ein Beispiel ist der Wutausbruch von Charlotte Roche in ihrem Podcast „Paardiologie“: „Mein ganzer Hass geht an die, die man noch draußen sieht in Gruppen“, so Roche. Da helfe nur „Public Shaming, verdammte Scheiße“. Es seien „Mörder“, denen „schwache Menschen“ zum Opfer fallen und über die man deshalb „schlecht reden“ dürfe. Ihrem Dialogpartner und Ehemann Martin Keß-Roche behagen diese Äußerungen nicht; er will ihr sogar das Mikrofon abdrehen.
Bei nicht wenigen Zuhörer*innen dürfte die Entrüstung von Charlotte Roche ambivalente Empfindungen auslösen: Hat sie in der Sache nicht recht – gefährdet das Nicht-Einhalten des Abstandsgebots nicht tatsächlich in zutiefst unsolidarischer Weise die „Schwachen“? Und ist nicht auch ihre affektive Entladung nachvollziehbar? Zugleich jedoch mag sich – wie bei ihrem Ehemann – ein Unbehagen melden: Ist es nicht problematisch, wenn wir andere Menschen in dieser Weise moralisch be- und verurteilen – sei es im Sprechen zu ihnen, sei es im öffentlichen Sprechen über sie?
Interessanterweise fühlen sich ja auch manche, die sich über Verstöße gegen das „Social Distancing“ empören, sogleich bemüßigt, das eigene Bewerten reflexiv einzuordnen – so etwa Armin Nassehi im Gespräch mit dem Deutschlandfunk: „Ich neige normalerweise nicht zum Moralisieren“. Aber diesmal scheint er es nicht lassen zu können, und so fährt er zwar nicht hasserfüllt wie Charlotte Roche, jedoch durchaus emotional engagiert fort: „Aber ich muss ganz ehrlich sagen, das ist unverantwortliches Verhalten […] Man würde doch denken, dass selbstverantwortliche Menschen so etwas wie Selbststeuerung hinkriegen.“
Was also ist von moralischen Be- und Verurteilungen dieser Art zu halten? Offensichtlich empfinden wir moralische Bewertungen oft auch dann als problematisch, wenn wir ihnen in der Sache zustimmen – und zwar insbesondere dann …
- wenn ein Handeln moralisch bewertet wird, das als Teil der privaten, Andere nicht in ihren Rechten berührenden Lebensführung „die Andere nichts angeht“ und für das wir in einer pluralen Gesellschaft wechselseitiges Tolerieren einfordern (wobei allerdings für etliche „Corona-Sünden“ negative Auswirkungen auf Dritte eben anzunehmen sind);
- wenn die moralische Bewertung Anderer (zum Beispiel der massenmedial so genannten „Corona-Sünder*innen) sich aus dem Bedürfnis speist, sich selbst gut und besser zu fühlen und in „moralischen Gefühlen zu schwelgen“ (Kant) – oft unter Ausblendung eigener „Sünden“ in anderen Zusammenhängen, wenn wir etwa die Folgekosten unserer Konsum- und Lebensweise hemmungslos externalisieren;
- wenn die qua Bewertung markierte Unterscheidung zwischen „uns“ (den guten Regelbefolger*innen) und „denen“ (den „Corona-Sünder*innen“) zwar das motivierende und verbindende Gefühl bestärkt, sich gemeinsam für Schwache einzusetzen, jedoch zu allzu einfachen und ausgrenzenden „Wir/Die“-Dichotomien führt – ohne sich der blinden Flecken dieses „Wir“ für Solidaritätsbedarfe in anderen Kontexten bewusst zu sein;
- wenn die Bewertung das Verhalten anderer Menschen allein aus den ihnen zugeschriebenen moralischen Schwächen erklärt, ohne die Verhältnisse, unter denen sie sich verhalten, zu berücksichtigen (zum Beispiel Wohn- und Familienverhältnisse, die ohne längeres Verweilen und ohne Sozialkontakt draußen in einer Weise belastend sein können, wie es sich manche privilegierten Beurteiler*innen nicht vorstellen können);
- wenn die moralische Bewertung ein Verhalten (das in der Sache tatsächlich falsch sein mag) allein deshalb negativ bewertet, weil es einen Verstoß gegen staatliche Regeln darstellt, sodass man sich in der Verurteilung (gegebenenfalls sogar Denunziation) als ordnungshütender Mit-Vollstrecker fühlen kann, der an der sich durchsetzenden Autorität partizipiert;
- wenn die moralische Bewertung nicht nur schnell und spontan erfolgt, sondern sich selbst dermaßen sicher ist, dass jegliche Anfrage (ob zum Beispiel ein konkretes Verhalten tatsächlich gefährlich ist, oder auch, ob eine konkrete Regel tatsächlich sinnvoll ist) von vornherein ins Unrecht gesetzt wird;
- wenn die moralische Bewertung ihren Nachdruck aus nachvollziehbaren Emotionen (Zorn über Rücksichtslosigkeit; Angst vor Ansteckung etc.) gewinnt, diese jedoch jeglicher rationalen Reflexion entzogen sind, sodass weder die Bewertung inhaltlich auf ihre Angemessenheit hin geprüft wird, noch die Artikulation der Bewertung in Form und Tonfall zivilisiert und eingehegt wird.
Ein moralisches Bewerten, das solche Merkmale aufzuweisen scheint, empfinden wir in der Regel als problematisch:
- Das Bewerten kann unwirksam oder kontraproduktiv sein, insofern das be- oder verurteile Verhalten beibehalten wird oder sich sogar verfestigt – nach dem Motto: „Jetzt erst recht“.
- Das moralische Bewerten kann, insofern es dem bewerteten Menschen nicht gerecht wird und ihn unter Umständen verletzt, selbst moralisch problematisch sein.
- Das Bewerten kann als „Conversation Stopper“ die zwischenmenschliche und gesellschaftliche Auseinandersetzung zur Frage blockieren, welches Handeln sinnvoll, hilfreich und solidarisch ist.
Gleichwohl wäre es fatal, das moralische Bewerten schlechthin zu verwerfen:
Erstens kann der Vorwurf „Du moralisierst!“ selbst eine Variante des Moralisierens sein, indem er den Kritiker*innen vorhält, Kommunikations- und Rationalitätsstandards nicht einzuhalten und daher nicht ernst genommen werden zu müssen. Auf diese Weise kann jeder kritische Hinweis auf eine Verletzung von Rechten umstandslos als „Moralisieren“ zurückgewiesen und jede Forderung nach Solidarität im Keim erstickt werden (so zum Beispiel die Diffamierung von Kritik an restriktiver Migrationspolitik als unangebrachte Moralisierung von Politik). Nach einem ähnlichen Muster der Delegitimierung hat immer schon der Vorwurf des Ressentiments an diejenigen funktioniert, die ungerechtfertigte Machtverhältnisse verurteilen, oder auch der Vorwurf des Neides an diejenigen, die ungerechte Ungleichverteilung von Ressourcen verurteilen.
Zweitens können moralische Bewertungen auch dann, wenn sie sich als emotionale „Ausbrüche“ artikulieren und nicht allen Anforderungen eines wohlabgewogenen Urteils entsprechen, erfrischend, provozierend und diskursanregend sein.
Nicht nur für Corona-Zeiten gilt: Sofern wir uns der oben genannten Gefahren bewusst bleiben und bereit sind, unsere moralischen Bewertungen nicht für das „letzte Wort“ zu nehmen, sie bei aller Empörung nicht abwertend, feindselig und gewaltsam zu artikulieren und sich der Gründe gebenden und nehmenden Auseinandersetzung samt Widerspruch und Konflikt zu stellen, sollten wir unser eigenes moralisches Bewerten nicht allzu sehr bändigen und dem moralische Bewerten der Anderen nicht generell das Mikrofon abdrehen.
Thomas Steinforth ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Globale Fragen der Hochschule für Philosophie München