Von Helden und Opfern. Das britische Gesundheitssystem als Symbol gesellschaftlicher Solidarität in Großbritannien

Praktiken der Solidarität

Von Helden und Opfern. Das britische Gesundheitssystem als Symbol gesellschaftlicher Solidarität in Großbritannien

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Jenny Pleinen

Eine der Lehren aus meinem Großbritannien-Aufenthalt ist die Erkenntnis, dass nicht so sehr die ‚Church of England‘ mit ihren vergleichsweise niedrigen Kirchgangsraten hier die wahre Nationalreligion ist, sondern der Gesundheitsdienst NHS. In Deutschland ist ‚das Gesundheitssystem‘ eher ein abstraktes Gebilde, mit dem sich kaum jemand identifiziert. Vor dem Hintergrund dieser Sozialisation hat es für mich bereits vor der aktuellen Krise etwas seltsam angemutet, wie sehr der NHS mit seinem Prinzip der kostenfreien Nutzung für alle Einwohner geliebt und verehrt wird. Zur öffentlichen Debatte über den NHS gehört allerdings paradoxerweise auch, dass seine chronische Unterfinanzierung und die daraus resultierenden Krisen, in denen das System regelmäßig kurz vor dem Kollaps steht, letztlich eher achselzuckend hingenommen werden.

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Die aktuelle Ausnahmesituation hat die Wahrnehmung des NHS als Kern nationaler Solidarität nochmals gestärkt. Das Personal des NHS wird als Fronttruppe in einem Krieg gegen den Virus als gemeinsamen Feind imaginiert – sie werden zu Verteidigern, die sich vor die hilflose Bevölkerung stellen.

Die Einhaltung der Ausgangssperre, zu der sich die Johnson-Regierung spät – mit Blick auf die hohen Opferzahlen zu spät ­– entschlossen hat, wird zu einem Akt der Solidarität der Bevölkerung mit den ‚Helden‘ des NHS. Parallel zu dieser ‚kriegerischen‘ Repräsentation zählen Ärzte und Pflegepersonal auch zu den  ‚gefährdeten‘ Bevölkerungsgruppen, denen in Supermärkten bevorzugte Einkaufsmöglichkeiten eingeräumt werden. Sie werden damit Rentnern und Menschen mit Behinderung gleichgesetzt. Diese doppelte Wahrnehmung als Helden und besonders verwundbare potentielle Opfer der Krankheit verleiht dem Vorwurf, dass die Regierung das Personal des NHS in der Krise nicht ausreichend mit Schutzkleidung ausstattet, besondere politische Brisanz, die allerdings die insgesamt hohen Zustimmungswerte für den Premierminister bisher nicht erschüttern konnte.

Schlagzeile des Daily Mirror | mirror.co.uk

Die Gründung des NHS und des modernen britischen Sozialstaats im Ganzen ist untrennbar mit der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges verbunden – sie wurden häufig als Entschädigung für während des Krieges erlittenes Leid und Entbehrungen gesehen. Während der letzten Jahre hat die instrumentalisierte Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in der britischen Politik viel Schaden angerichtet: In den Brexit-Diskussionen fungierte sie als Begründung für Feindseligkeit gegenüber den europäischen Nachbarn. Zu Beginn der Pandemie wurde sie von Briten, die sich der Aufforderungen zur sozialen Isolierung verweigerten, als Rechtfertigung angeführt; es sei eine Kapitulation, in der Krise nicht – wie während des Blitz– weiter zusammen in den Pub zu gehen. Königin Elizabeth II. hat demgegenüber in ihrer Krisenansprache vom 5. April versucht, die Erinnerung an den Krieg im Sinne einer vor allem auch internationalen Solidarität umzudeuten: „While we have faced challenges before, this one is different. This time we join with all nations across the globe in a common endeavour, using the great advances of science and our instinctive compassion to heal. We will succeed – and that success will belong to every one of us. We should take comfort that while we may have more still to endure, better days will return: we will be with our friends again; we will be with our families again; we will meet again.“

Selbst viele Kritiker der Monarchie mussten bei ihrer Ansprache das ein oder andere Tränchen verdrücken und einräumen, dass die aktuelle Krise durch die gefasste Ruhe, mit der die Queen Zuversicht vermittelte, ohne dabei die Situation zu verharmlosen, vermutlich als eine ihrer ‚finest hours‘ erinnert werden wird.

Die Folgen der Pandemie sind bisher noch kaum abzusehen. Schätzungen gehen davon aus, dass die britische Wirtschaft im internationalen Vergleich besonders schwer geschädigt wird und voraussichtlich um mehr als ein Drittel schrumpfen wird. Die Verteilung dieser Belastung wird während der nächsten Jahre eine enorme Herausforderung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt darstellen. Bereits jetzt ist klar, dass die Krise die ohnehin in Großbritannien stark ausgeprägt soziale Ungleichheit noch verstärkt: Die Kluft zwischen denen, die von zuhause arbeiten können und ihr Gehalt weiterbeziehen, und denjenigen, die ihr prekäres Arbeitsverhältnis bereits vor Wochen verloren haben und in der Quarantäne mit schweren finanziellen Sorgen zu kämpfen haben, wächst mit jedem Tag der Ausgangssperre weiter. Jenseits der sozioökonomischen Konsequenzen ist auch noch unklar, welches Ausmaß die psychologischen Folgen annehmen werden. Bisher erfassen die offiziellen Opferstatistiken nur positiv auf COVID-19 getestete Kranke, die im Krankenhaus sterben. Es wird noch dauern, bis diese im internationalen Vergleich bereits jetzt hohen Zahlen um diejenigen Opfer, die an der Krankheit zuhause oder im Altersheim sterben, nach oben korrigiert werden. Der Verarbeitungsprozess der aktuellen Krise wird vermutlich lange dauern – dazu gehört neben individueller Trauer und schwierigen Fragen der Lastenverteilung auch die kollektive Erkenntnis, wie fragil und privilegiert unsere bisherige Normalität war.

Jenny Pleinen ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut London.

 

Eine Antwort

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