Zum biopolitischen Kontext gegenwärtiger Solidarität

Praktiken der Solidarität

Zum biopolitischen Kontext gegenwärtiger Solidarität

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Olivia Mitscherlich-Schönherr

Die Akte und Formen der Solidarität, die wir gesamtgesellschaftlich gegenwärtig ausüben, beeindrucken. Nicht nur haben wir mit der sozialen Distanzierung und dem Verzicht auf grundlegende Freiheitsrechte neue, bisher kaum vorstellbare Formen der Solidarität ausgebildet; darüber hinaus macht auch die Rückhaltlosigkeit unserer Solidarität staunen. In Gestalt von vier Thesen möchte ich den sozio-kulturellen Kontext unserer gegenwärtigen Solidarität in den Blick rücken; ihre Probleme reflektieren und nach alternativen Formen fragen, unser Leben unter den Bedingungen der Pandemie solidarisch zu gestalten.

  1. These: Unsere Akte der Solidarität sind Teil der biopolitischen Lebensform, die unsere Gegenwart bestimmt.

Im normativen Zentrum der biopolitischen Lebensform, die wir binnen kürzester Zeit ins Werk gesetzt haben, steht das Ideal der Lebensrettung. Angesichts der Möglichkeiten der modernen Medizin, durch Testung und Therapie immer weitreichender in die biologischen Lebensprozesse einzugreifen, scheint die Rettung jedes Lebens vor der Gefährdung durch die gegenwärtige Pandemie prinzipiell möglich. Politiker_innen haben sich nun für den Verlust der Leben zu rechtfertigen, die nicht gerettet wurden. Ärzt_innen – insbesondere Virolog_innen – steigen zu den wichtigsten Politikberater_innen auf, verfügen sie doch über das entscheidende Wissen und die ausschlaggebenden Kompetenzen der Lebenserhaltung. Das Verhindern eines Kollapses der Intensivmedizin wird zum obersten politischen Ziel. Die ‚Durchseuchung‘ muss in allen Phasen der Epidemiebekämpfung so verlangsamt werden, dass das System der Intensivmedizin standhält. Und als Bürger_innen sind wir moralisch zur Solidarität des Abstandhaltens und des Verzichts auf eine Vielzahl von Freiheitsrechten angehalten, um unseren Teil zu diesem System der Lebensrettung beizutragen. Ethische und politische Alternativen scheinen nicht offenzustehen. Bei Versäumnissen durch Politiker_innen oder Bürger_innen droht der Zwang zur ‚Triage‘, in der wir Menschen aus dem System der Intensivmedizin zum Sterben-Lassen aussondern – obwohl wir sie doch prinzipiell hätten retten können.

  1. These: Das Ideal der Lebensrettung, an dem wir uns mit unseren Akten der Solidarität orientieren, ist politischer Natur: den sozio-kulturellen Mustern der ‚Biomacht‘ verschuldet.

Der Anschein der Alternativlosigkeit gerät ins Wanken, wenn wir die Grenzen unseres ethischen Wissens reflektieren: dass niemand von uns – weder die Ethiker_innen von Profession noch die Virolog_innen – über einen archimedischen Erkenntnisstandpunkt verfügt, um Lebensrettung als Endzweck unseres geteilten Lebens auszuzeichnen. Wenn wir unsere biopolitische Lebensform gleichwohl in kürzester Zeit ins Werk gesetzt haben, dann haben wir darin an sozio-kulturell zur Verfügung stehende Muster der Lebensgestaltung angeschlossen: an die Muster der ‚Biomacht‘ und der ‚Bioökonomie‘, die sich im Zuge des modernen Gesundheits- und Medizinsystems ausgebildet haben.

Im modernen Gesundheits- und Medizinsystem werden der Lebensanfang und das Lebensende – man denke an ‚künstliche Befruchtung‘ und ‚Hirntod‘ – immer weiter in die menschliche Verfügungsmacht einbezogen. Zugleich steht das Gesundheits- und Medizinsystem unter ökonomischen Maßstäben. Bewahrung, Bemächtigung und Ökonomisierung des Lebens greifen ineinander. Dabei fallen in der Behandlung – seitdem das Sterben intensivmedizinisch immer weiter hinausgeschoben werden kann – die Bewahrung des Lebens und eine entscheidende Verbesserung des körper-leiblichen Gesamtbefindens nicht mehr notwendig zusammen. In der Gegenwart kann es etwa bei der Beatmung von Corona-Patient_innen zu solchen Formen des Lebenserhalts ohne Verbesserung des Wohlbefindens kommen. Angesichts der Möglichkeiten des Auseinanderdriftens von Lebensbewahrung und Patient_innenwohl wird in ethischer Hinsicht seit vielen Jahren die alleinige Orientierung der Intensivmedizin am Lebenserhalt kritisch diskutiert. In der Gegenwart steht eine analoge Diskussion auf gesamtgesellschaftlicher Ebene an: eine Diskussion über die Gefahren, denen wir die Welt, die kommenden Generationen und uns selbst aussetzen, indem wir die gegenwärtige Corona-Epidemie unter Federführung der Ärzt_innenschaft in den biopolitischen Bahnen eines Lebenserhalts durch Lebensbemächtigung bewältigen wollen.

  1. These: In ihrer Orientierung am Ideal des Lebenserhalts laufen unsere gegenwärtigen Akte der Solidarität Gefahr, in Formen der normalisierenden und exkludierenden Gewalt zu kippen.

Der Anschein der Alternativlosigkeit gerät weiter ins Wanken, wenn wir die Rückseite unserer gegenwärtigen, biopolitischen Lebensform ins Auge fassen. Um willen der Lebensrettung üben wir Solidarität gegenwärtig als Solidarität gegenüber Erkrankten und den Hochrisiko-Gruppen – beziehungsweise genauer: gegenüber unseren ‚eigenen‘, erkrankten MitbürgerInnen und unseren ‚eigenen‘ Hochrisiko-Gruppen – aus. Dabei gehen unsere aktuellen Akte der Solidarisierung nicht nur mit Formen der Entsolidarisierung einher, sondern bringen vielmehr ihrerseits Formen der Gewalt hervor. Unsere Solidarität mit unseren ‚eigenen‘ Erkrankten und Hochrisikogruppen ist der Grund dafür, dass wir uns – in Gestalt von Grenzschließungen, Ausfuhrverboten für bestimmte Medizinprodukte – nach außen abschotten. Aber auch nach innen zeitigt unsere Solidarität unterschiedliche Formen der Gewalt. Nicht nur laufen unsere Akte verallgemeinerter Fürsorge Gefahr, in Formen wechselseitiger Überwachung und Normalisierung zu kippen. Mit unseren Akten der Solidarität setzen wir darüber hinaus Menschen existenziellen Notsituationen aus: wir stiften nicht nur die bereits erwähnten, leidvollen Sterbenssituationen, sondern überlassen Menschen der Vereinsamung, Kinder familiärer Gewalt, prekär Beschäftigte dem wirtschaftlichen Ruin. Und nicht zuletzt nehmen wir mit unserer Solidarität, mit der wir den gesellschaftlichen Wohlstand aufs Spiel setzen und Schuldenberge anhäufen, Hypotheken auf die kommenden Generationen auf. Angesichts des Umfangs des Leides sind unsere Notfallhilfen gering – und gehen darüber hinaus weiter auf die Kosten der künftigen Generationen.

  1. These: In alternativer, demokratischer Biopolitik ließen sich alternative Formen der politischen Solidarität leben.

In der gegenwärtigen ‚Grenzsituation‘ müssen wir nicht auf das System von Lebensrettung durch Lebensbemächtigung der ‚Biomacht und -ökonomie‘ zurückgreifen (zu medizinethischen Problemen als Grenzsituationen vgl. Rehbock 2005). Sozio-kulturell stehen uns in Gestalt der demokratischen Prozesse Alternativen offen: alternative Formen der Beurteilung und Gestaltung der aktuellen Krise, in denen die Frage nach dem gesamtgesellschaftlich Guten nicht vorschnell beantwortet, sondern vielmehr offengehalten wird. Indem wir die aktuelle Krise und unsere Praktiken zu ihrer Gestaltung in unseren demokratischen Debatten nicht im Ausgang von biopolitischen ‚Leitbildern‘ bestimmen, können wir die aktuelle Krise und unsere Formen der Krisenbewältigung kritisch reflektieren (zur Kritik an Leitbildern vgl. Kersting 2017). Wir können die aktuelle Krise in ihrer Komplexität analysieren und neben den epidemiologischen Prozessen auch die weiteren Aspekte unserer Formen der Lebens- und Naturbeherrschung, unserer Tierhaltung, unseres neoliberalen, globalen Wirtschaftens ins Auge fassen. Dabei können wir unter anderem auch die Probleme kritisch reflektieren und diskutieren, die die biopolitische Lebensform der Lebensrettung durch Lebensbemächtigung bei der Gestaltung der aktuellen Krise hervorbringt. Darüber hinaus können wir in den demokratischen Debatten die Analyse der Krise, die Analyse unserer Krisenbewältigung und unsere normativen Leitprinzipien im Lichte des gesamtgesellschaftlich Guten aneinander abgleichen, das wir nicht kennen, sondern miteinander im Dialog allererst suchen. In solchen Akten des Abgleichs können wir als DemokratInnen inmitten der aktuellen Krise politische Lernprozesse durchlaufen (zum Verständnis der politischen Lernprozesse vgl. Jaeggi 2014, 392-446). Zu ihrem Ergebnis haben diese dialogischen Lernprozesse wiederum kein allgemeingültiges Wissen über das gesamtgesellschaftlich Gute, jedoch erneuerte Prinzipien der Krisenreflexion und -gestaltung, in die das erreichte Wissen über die Schwierigkeiten und das Unrecht eingegangen ist, die die biopolitische Lebensform bei der Bewältigung der gegenwärtigen Krise zeitigt (vgl. ebd.). In Gestalt solcher Lernprozesse üben wir nicht als Mitglieder unserer Gemeinschaften, sondern als DemokratInnen Formen nicht der sozialen, sondern der genuin politischen Solidarität aus (zu den Begriffen der sozialen und politischen Solidarität vgl. Reder 2020). Indem wir inmitten unserer gesamtgesellschaftlichen Krise die normativen Prinzipien unserer Lebensgestaltung kritisch diskutieren, unterdrückte Aspekte des Guten zur Sprache bringen und in unsere künftige Lebensgestaltung integrieren, verhalten wir uns als DemokratInnen insbesondere mit den kommenden Generationen solidarisch, deren Welt wir hier und jetzt in Gestalt unserer politischen Analysen, Praktiken und Debatten mitgestalten.

Literatur:

Rahel Jaeggi (2014): Kritik von Lebensformen, Berlin.

Daniel Kersting (2017): Tod ohne Leitbild? Philosophische Untersuchungen zu einem integrativen Todeskonzept, Münster.

Michael Reder (2020): Solidarität in Corona-Zeiten, zuletzt abgefragt am 11.4.2020.

Theda Rehbock (2005): Personen in Grenzsituationen. Zur Kritik der Ethik medizinischen Handelns, Paderborn.

Olivia Mitscherlich-Schönherr ist Dozentin für Philosophische Anthropologie an der Hochschule für Philosophie München.

 

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