Vorwärts – und niemanden vergessen!

Mirko Broll, Eva Fleischmann, Anton Schmidt, Laura Späth
»Seit der deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.«
– Angela Merkel
»Solidarität – ich weiß, das ist ein großes Wort. Aber erfährt nicht jeder und jede von uns derzeit ganz konkret, ganz existenziell, was Solidarität bedeutet? Mein Handeln ist für andere überlebenswichtig.«
– Frank-Walter Steinmeier
Wohin man auch blickt, überall rufen die unterschiedlichsten Menschen zu Solidarität auf, appellieren an oder loben das solidarische Miteinander. Die Solidaritätsforderung bezieht sich auf die eigene Nachbarschaft, auf alte oder besonders vulnerable Menschen, Einzelhändler*innen, auf die Stammkneipe an der Ecke, das Einkaufsverhalten und natürlich generell »die Gesellschaft« – mit ihr ist man am besten durch »social distancing« und physisches Abstandhalten solidarisch. Zumindest bemerkenswert – wenn auch nicht neu – ist dabei, dass der vor allem aus einer linken Tradition kommende Begriff von Politiker*innen wie Merkel, Macron und von der Leyen wohlwollend und inflationär verwendet wird. Solidarität ist zur Wohlfühlkategorie und zum gesellschaftlichen Leitwert geworden.
Grenzen der Solidarität
Bei näherer Betrachtung erweist sich das vorherrschende Solidaritätsverständnis allerdings als ziemlich begrenzt. Es zieht implizit oder explizit Grenzen zwischen denen, die mitgemeint sind und denen, die nicht Teil des solidarischen Zusammenhangs sind. Diese Grenzen der Solidarität verlaufen häufig entlang der nationalstaatlichen bzw. staatsbürgerlichen Grenzen, so zum Beispiel in den Fernsehansprachen von Merkel und Steinmeier.
Diese Grenzziehungen zeigen sich nicht nur in den überfüllten Lagern auf den ägäischen Inseln, wo Hygienemaßnahmen und medizinische Versorgung im Notfall kaum möglich sind. Auch hier in Deutschland sind sie offensichtlich, nimmt man bspw. die Unterbringung Geflüchteter in den Blick, für die andere Schutzmaßnahmen zu gelten scheinen. Beengte Gemeinschaftsunterkünfte oder ANKER-Zentren sind auch unter Corona-Umständen die gängige Unterbringungsart. Wie die Geflüchteten das Gebot der physischen Distanz von 1,5 Metern in geteilten Schlafräumen oder bei der gemeinsamen Nutzung von Toiletten, Waschräumen und Küchen allerdings einhalten und sich dadurch selbst vor einer Infektion schützen sollen, ist eine Frage, die vermutlich niemand beantworten kann. Die Kantinen in den ANKER-Zentren verstoßen zwar gegen das Gastronomieverbot, aber auch dieses Problem ist eines, mit dem sich die Mehrheit der Gesellschaft nicht auseinanderzusetzen braucht. Geflüchtete scheinen nicht Teil des Solidaritätsverständnisses zu sein, ihre Demonstrationen gegen diese Art der Unterbringung werden mit dem Hinweis auf das Infektionsschutzgesetz angezeigt. Nur konsequent ist daher das Betreuungsverbot, dem die Sozialdienste in den staatlichen Unterkünften seit Mitte März unterliegen. Deren Aufgabe ist es eigentlich, geflüchteten Menschen Sozial-, Gesundheits-, und Rechtsberatung anzubieten und den Zugang zum Gesundheitswesen zu ermöglichen. Dieses Verbot erschwert nun zusätzlich zu den prekären Lebensbedingungen den Zugang zu medizinischer Versorgung erheblich.
Voraussichtlich werden die Lockerungen der Corona-Beschränkungen zu höheren Infektionszahlen führen, die besonders Geflüchtete in Unterkünften betreffen dürften. Die Belegung der Unterkünfte wird zwar (soweit möglich) entzerrt, dieser Spielraum ist aber – durch Corona noch mehr als sowieso schon – begrenzt. Obwohl die Unterkünfte gefährliche Infektionsherde darstellen, hält die Regierung an der Art der Unterbringung fest und Joachim Herrmann erklärt, die bayerischen Behörden »machen alles Erforderliche, um Infektionsketten in Asylunterkünften von vornherein zu verhindern (…). So schützen wir gleichermaßen unsere Bevölkerung und die Bewohner der Asylunterkünfte«. In diesem Zitat wird die offensichtliche nationale Rahmung von Solidarität ein weiteres Mal manifest, die Trennung erweist sich auch als politisch gewollt.
Praktiken der Solidarität als Einspruch gegen das Bestehende
Dass es auch anders sein könnte und Solidarität nicht zwangsläufig an den Grenzen der Nation oder Europas enden muss, ist nicht nur utopisches Ideal. Tagtäglich üben viele Menschen eine andere Form von Solidarität, was nicht zuletzt unsere eigenen Forschungen zur Geflüchtetenhilfe und zum solidarischen Gesundheitswesen in Griechenland zeigen.
Die selbstorganisierten Kliniken und Apotheken dort haben durch ihr tägliches Handeln einen Vorschlag für ein anderes Modell der Gesundheitsversorgung gemacht, das sich nicht an Staatsbürgerschaft und Erwerbstätigkeit orientiert. Die erste dieser basisdemokratischen Initiativen wurde bereits 2008 auf Kreta für die Versorgung von Menschen ohne Aufenthaltsstatus gegründet. In den Krisenjahren ab 2010 verloren immer mehr griechische Staatsbürger*innen ihre Krankenversicherung (in der Spitze betraf dies in etwa ein Drittel der griechischen Bevölkerung) und waren somit auf die solidarischen Kliniken angewiesen. Der geteilte Grundsatz ist: Gesundheitsversorgung darf keine Frage der Herkunft oder des Einkommens sein, sie muss davon gelöst als Menschenrecht betrachtet werden.
So gibt es in Griechenland ein über das Land verteiltes Netz sozialer Kliniken und Apotheken, die ehrenamtlich betrieben werden und durch zahlreiche Initiativen in ganz Europa gestützt werden. Performativ und praktisch zeigen die Menschen dort eine Alternative zur bestehenden Gesundheitsversorgung auf, wobei sie zugleich für die Versorgung und Ermächtigung von Geflüchteten kämpfen. Damit bringen sie Menschenrecht ernsthaft zur Geltung und genau darin liegt auch ihre gesellschaftliche Bedeutung und ihr Potential, das deutlich über jede Nothilfe hinausweist. An diese andere Form, Solidarität zu denken und zu praktizieren, gilt es auch in Deutschland anzuschließen.
Lasst niemanden zurück!
Die Forderung nach umfangreicher Solidarität wird in den gegebenen Verhältnissen nicht umzusetzen sein: Sie kann nicht real werden im Angesicht eines kapitalistischen Alltags, der Gesundheitssysteme nach marktwirtschaftlichen Logiken aus- und damit zugrunde richtet und eines Alltags, in dem eine rassistische Grundstruktur zahlreiche Ausschlüsse mit sich bringt.
Es braucht ein Umdenken, das bereits kritisch und ablehnend an dem Punkt ansetzt, an dem Solidarität nationalstaatlich gerahmt wird. An dem sie zu einer Phrase verkommt, die ausschließlich auf eine Absicherung der Positionen von denjenigen abzielt, denen sowieso die meisten Privilegien und Ressourcen zukommen. Solidarität kann nicht immer auf Augenhöhe funktionieren, auch das lehrt uns Corona. Aber das Ziel von solidarischen Beziehungen sollte eben genau diese Augenhöhe sein.
Wenn Solidarität auf eine radikale Veränderung der gesamten Gesellschaft abzielt, kann sie zu einer Solidarität werden, die weit über die Coronakrise hinausgeht. Diese kann Auslöser und Maßstab dafür sein, was es jetzt und in der Zeit nach Corona braucht. Damit die Solidaritätsforderungen der Mehrheitsgesellschaft in der nächsten Krise nicht einen großen Teil der Bevölkerung ausklammern. Damit die Solidarität der Zukunft alltäglich werden lässt, was jetzt die wichtigste politische Forderung ist: Lasst niemanden zurück!
Eva Fleischmann, Mirko Broll, Anton Schmidt und Laura Späth sind MitarbeiterInnen am Lehrstuhl für Politische Soziologie sozialer Ungleichheit an der Ludwig-Maximilians-Universität München
8 Antworten
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