Wir brauchen mehr Solidarität als physische Distanzierung

Praktiken der Solidarität

Wir brauchen mehr Solidarität als physische Distanzierung

Distanz_Solidarität

TheDigitalArtist | pixabay.com

Gottfried Schweiger

Solidarität ist in aller Munde und wird als ein starkes Mittel gegen die weitere Ausbreitung der COVID-19-Pandemie propagiert. Es heißt zum Beispiel, Menschen verhielten sich solidarisch, wenn sie zu Hause blieben. Ich bin mir da nicht so sicher, da es einfach die Befolgung von Regeln und Gesetzen ist, die hier geschieht. Verordnete Solidarität ist aber vielleicht gar keine, oder zumindest keine, wie wir sie uns moralisch erhoffen würden. Vor allem aber stellt sich die Frage, wer hier mit wem eigentlich solidarisch sein sollte. Man kann diese in zwei Teilfragen aufteilen: Welche Praktiken der Solidarität sollte der Staat verordnen und welche Praktiken der Solidarität wären moralisch angebracht, obwohl sie (noch) nicht vom Staat verordnet sind?

Wir sollten vor allem mit denen solidarisch sein, die unsere Solidarität benötigen. Man könnte meinen, das sind gerade alle Menschen, da wir alle gefährdet sind. Das ist richtig, aber nicht ausreichend. Manche sind stärker gefährdet, zum Beispiel, weil sie älter sind oder weil sie unter Vorerkrankungen leiden. Ihnen sollen die verordneten Praktiken der Solidarität wie die physische Distanzierung vor allem helfen. Das ist gut so, aber nicht genug. Es gibt nämlich auch Gruppen, denen diese Art von Maßnahmen alleine nicht viel helfen werden, um sich vor einer Ansteckung zu schützen. Zum Beispiel benötigen Menschen, die obdachlos sind, mehr als dass andere zu Hause bleiben. Sie brauchen die Möglichkeit, zu essen und zu schlafen und sich in einem sicheren Raum von anderen physisch zu distanzieren. Problematisch ist auch die Situation in Heimen, Notunterkünften oder Gefängnissen, wo es teilweise Möglichkeiten der physischen Distanzierung gibt, teilweise aber auch nicht, da die verfügbaren Räume begrenzt sind und dort notgedrungen viele Menschen zusammenleben. Sich diesen Gruppen gegenüber solidarisch zu zeigen, kann sich also nicht darin erschöpfen, daheim zu bleiben und nichts zu tun. Es braucht andere Formen der Solidarität.

Es gibt wichtige Praktiken der Solidarität, die über die physische Distanzierung hinausgehen und die wir derzeit beobachten können. Zum Beispiel verzichten Sportler auf Teile ihrer Gehälter, um ihren Vereinen zu helfen. Das ist durchaus löblich, für einige der hochbezahlten Sportler, aber wohl keine Einschränkung ihrer Lebensqualität. Viele Menschen versuchen, lokale Geschäfte weiterhin zu unterstützen und dort online oder über Telefon einzukaufen. Andere lassen sich ihr Essen vom Italiener ums Eck liefern, weil sie nicht mehr dort essen gehen können. Manches davon ist solidarisch, anderes ist schlicht ein normaler ökonomischer Akt, weil man die Dinge sowieso kaufen würde. Ein Aspekt der Solidarität liegt darin, dass man etwas für andere tut, was man nicht ohnehin getan hätte und der mit einem Verzicht einhergeht. Sonst wäre jeder Einkauf, egal wo, ein solidarischer Akt, weil er dem Geschäft Einnahmen bringt.

Solidarität in Zeiten der COVID-19-Pandemie darf sich nicht nur darauf beschränken, die Ansteckungsrate niedrig zu halten. Der Schutz der Gesundheit ist ein sehr wichtiger Aspekt, aber nicht der einzige. Es gilt, die sozialen Auswirkungen im Auge zu haben. Auch solche sozialen Folgen der Pandemie, die manchmal übersehen werden: Wer hilft jetzt den Prostituierten, die zuerst einem hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt waren und nun fast keine Kunden mehr haben, aber noch immer Geld abliefern müssen oder ein überteuertes Zimmer zu zahlen haben? Wer hilft den Kindern, die Opfer der nun ansteigenden häuslichen Gewalt werden? Hier kommt die interpersonale Solidarität, die im Mittelpunkt dieser Pandemie zu stehen scheint, an ihre Grenzen und es bedarf institutioneller Lösungen. Diese institutionellen Lösungen können aber auch dann mit dem Konzept der Solidarität verstanden werden, wenn sie aus den Geldmitteln deren finanziert werden, die nun mehr zu geben haben als andere.

In dieser Krise geht es um viel Geld. Einerseits kostet die medizinische Behandlung viel Geld. Andererseits erzeugt die drastische Reduzierung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens enorme Kosten, die noch lange nachwirken werden. Diese Kosten sind durchaus nicht nur ökonomischer Natur. Arbeitslosigkeit und Armut, die unweigerlich auf Entlassungswellen folgen, erzeugen Stress, Ängste, sozialen Abstieg und Krankheit. Die meisten dieser Kosten werden die betroffenen Menschen und ihre Familien selbst tragen müssen, einige Kosten werden auf den Staat zukommen, wenn er Transferleistungen, sozialarbeiterische Unterstützung oder Krankheitskosten zahlen muss.

Man sollte die Frage lauter stellen, wieso wir noch nichts von den vielen reichen und superreichen Menschen gehört haben und was sie zu tun gedenken. Man sollte auch in Zeiten dieser Krise wiederholen, dass es eine ökonomische Hilfe für alle, die es nötig haben, nicht an einem Mangel an Geld scheitern würde, welches im Übermaß in den reichen Ländern wie Deutschland und Österreich vorhanden ist. Das Finanzvermögen ist nur so verteilt, dass es in den Händen einiger weniger konzentriert ist und derzeit vom Staat nicht darauf zugegriffen wird. Die Kosten, die dem Staat jetzt erwachsen, werden überwiegend aus den Einkommens- und Verbrauchsteuern gezahlt.

Hier stellt sich dann die Frage, welche Praktiken der Solidarität der Staat verordnen sollte. Die jetzt gesetzten Maßnahmen der physischen Distanzierung und des Herunterfahrens des ökonomischen und sozialen Lebens sind drastisch. Wird der Staat auch drastisch vorgehen, wenn es darum geht, die soziale und ökonomische Existenz der schwächsten Gesellschaftsmitglieder zu retten, all jener, die jetzt (fast) alles verlieren? Werden dafür per Gesetz die Vermögen der Reichen und Superreichen herangezogen oder bleibt es bei schönen Aufrufen etwas zu spenden und sich solidarisch zu zeigen? Es ist leider zu erwarten, dass die Reichen und Superreichen von sich aus nicht sehr viel tun werden. Aber selbst wenn sie Hilfsfonds einrichten würden, wäre es richtig, wenn sich der Staat dem annehmen würde. Es macht nämlich Sinn, dass jetzt nicht nur Appelle zur physischen Distanzierung oder zur Reduktion des Geschäftslebens ausgesprochen werden, sondern es gesetzliche Maßnahmen gibt, die der Staat durchsetzen kann.

Gottfried Schweiger ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg. Seine Homepage findet sich unter: https://www.gottfried-schweiger.org/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert