Das Unbehagen in der Pandemie
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Marco Kammholz
Solidarität wird gegenwärtig häufig mit Seuchenschutz oder Nächstenliebe verwechselt. Tatsächlich müsste sie etwas wesentlich Radikaleres sein.
Die Umstände, unter denen das Zusammenleben derzeit stattfinden muss, verdeutlichen auf eindrückliche Weise, was die Psychoanalyse für das gesellschaftliche Leben generell als wesentlich feststellt: Es ist unheimlich und unbehaglich. Sigmund Freud verweist in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ nicht ohne Grund auf Schopenhauers Parabel von den Stachelschweinen. Diese suchen die Nähe zueinander, um sich vor der Kälte und dem Erfrieren zu schützen, gleichwohl treiben ihre Stacheln sie wieder auseinander. Für Schopenhauer liegt die Lösung aufgrund der „vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler“, die einem durch die Mitmenschen begegnen, in der Sitte und der Höflichkeit, die sich in einer simplen Anweisung äußere: Keep your distance!
Abstand zu halten, gilt es in Zeiten der Covid-19-Pandemie nicht nur wegen der vom Gesetzgeber drohenden Strafen, es wird gemeinhin als Ausdruck von Solidarität gehandelt. Das unheimlich verkümmerte soziale Leben und die leergefegten Straßen, der der kulturellen, politischen und intellektuellen Versammlungen beraubte und radikal unbehaglich gemachte Alltag, die Begrenzung körperlichen und hautengen Kontakts auf einige wenige oder gar keine Menschen: All diese Zumutungen beruhen auf ordnungspolitischen Maßnahmen, die auf Anforderungen der Epidemiologie reagieren. Sie sollen die Infektionsketten unterbrechen, die Ausbreitung des Virus verlangsamen, das allgemein- und intensivmedizinische Versorgungssystem entlasten, den Kollaps des Gesundheitssystems verhindern und Risikogruppen schützen. Wem das nicht einleuchtet, dem mangelt es an Einsicht in die virale Bedrohung, die ohne Maßnahmen des Seuchenschutzes erschreckend viele Leben kosten wird. Doch es trifft dabei nicht irgendwen durch bloßen Zufall oder Unglück, sondern eben ganz bestimmte Menschen, in bestimmten Klassen- und Subjektpositionen. Es trifft vorrangig die ökonomisch Besitzlosen und die politisch Machtlosen, sowohl was die systematische Gefährdung der Gesundheit und des Wohlergehens als auch was die drastischen Eingriffe in den Lebensvollzug angeht.
Unheimlich und unbehaglich ist auch das weitaus banalere, aber umso nervenaufreibendere Ringen um das mentale Gleichgewicht. Man kann sich kaum retten vor den belästigend pastoralen Botschaften Frank-Walter Steinmeiers, der sich trostspendend an die Deutschen wendet, oder vor den schnappatmigen Ausfällen einer Charlotte Roche, die ihrer Bestrafungslust freien Lauf lässt und kurzum diejenigen, die das Haus noch in Gruppen verlassen, des Mordversuchs bezichtigt. An die Menschen werden derartig gegensätzliche Anforderungen gestellt, dass die gesteigerte Reizbarkeit und das teils aggressive Drängen auf ein unerreichbares Ideal des Schutzes und der Kontaktlosigkeit kaum verwundern. Man soll fürsorglich sein, indem man Abstand hält; man wird kollektiviert, während der eigene und der andere Körper auf ihre Eigenschaft als potentielle Virusträger reduziert werden; man soll sich ganz den anderen zuliebe mäßigen und verzichten; man soll sich bei all der gefühlten Ohnmacht und Hilflosigkeit besonders verantwortungsvoll zeigen.
Ausgleich erhält man für diese Bemühungen aber fast gar nicht und obendrein ist deren Ende noch nicht einmal absehbar. In dieser widersprüchlichen Zwangslage zwischen Vereinzelung und Vergemeinschaftung wird nun allenthalben die Forderung nach Solidarität erhoben. „Seid solidarisch“ und „bleib gesund“ trällert es einem derart aufdringlich in sozialen Medien, Werbung und Nachrichten entgegen, während auf den Balkonen geklatscht wird, dass man geneigt ist, gleich freiwillig die geforderte Flucht ins Private zu suchen – oder durch Verweigerung zu rebellieren.
In dieser Hinsicht sollte die Forderung nach Solidarität zunächst als leere Phrase verstanden und kritisiert werden. Die bloße Wiederholung der ohnehin allen bekannten und sehr weitgehend beachteten Regelungen der Bundesregierung und der Landesregierungen wird dem politischen Anspruch, der im Begriff Solidarität steckt, nicht gerecht. Wer das Sich-Kümmern an der bloßen Befähigung und Bereitschaft zu individuellen Maßnahmen des Seuchenschutzes bemisst, verwechselt Solidarität mit Bereitwilligkeit und lässt außer Acht, dass die derzeitigen Einschnitte auch fast alle Grundrechte einschränken oder schlichtweg aufheben. Wer Hilfsbereitschaft auf Einkaufsdienste, Gabenzäune und Gassigehen für Hundebesitzer in Quarantäne beschränkt, verwechselt Nächstenliebe mit Solidarität. Ersteres stellt alle in den Dienst für einen höheren Zweck und unterwirft sich auch noch einem Glaubenssystem. Letzteres tritt für wirklich menschliche Beziehungen ein und erkennt dabei, welche Verhältnisse dem im Wege stehen. Da die große Mehrheit der Menschen sich selbst und ihrer Umwelt offenkundig sehr diszipliniert entgegentritt, braucht es für Linke mit Interesse am politischen Handgemenge nicht noch mehr Alltagsepidemiologie und pädagogische Rhetorik.
Vielmehr bedarf es aller Wachsamkeit für die sozialen Kämpfe und Widersprüche, die sich in dieser umfassenden Krise auftun. Gelingt dies nicht, so münden linke Gesellschaftskritik und praktizierte Solidarität in die einseitige Fortsetzung und Totalisierung von Prävention. Der permanente Handlungsdruck zur Verhinderung des in der Zukunft liegenden Schlechten lastet dann und vor allem auf den Einzelnen. Darin setzt sich das vorrangige Vergesellschaftungsprinzip eines autoritären Liberalismus fort, bei dem individuelles Verhalten permanentem Management und ständiger Optimierung unterliegt. Auch weil wir diesen Subjektivierungsprozessen so umfassend unterworfen sind, funktionieren die Einschränkungen dieser Tage – auf der Oberfläche – so reibungslos. Das ist, neben dem nützlichen Effekt der möglichen Eindämmung der Krankheitsausbreitung, gleich in mehrfacher Hinsicht problematisch: Die gesellschaftliche Produktion der Pandemie tritt hinter individualisierende Schuld- und Verantwortungszuweisungen zurück. Die ungleiche Verteilung von Risiko und Sterblichkeit verblasst. Die Materialität von Elend, auch dem der Lohnarbeit, das die Menschen zu Risikoverhalten zwingt, bleibt unbenannt. Zurück bleibt nur, wie es Grégoire Chamayou in seinem Buch „Die unregierbare Gesellschaft“ feststellt, „das ‚verantwortliche‘ Subjekt, das sich im Rahmen seiner Möglichkeiten durch seine Mikrotugend den Makrosünden des Systems widersetzt“.
So schwer es fallen mag, muss echte Solidarität in diesen Tagen auch den Unvollkommenen, Leichtsinnigen, Verzweifelten und Verzockten gelten und die Wut den ungleichen Bedingungen, die sie dazu werden lassen. Wenngleich Aids mit Covid-19 nicht verglichen werden kann, weil das HI-Virus hauptsächlich bei sexuellen Kontakten übertragen wird und die Hauptbetroffenen gesellschaftliche Randgruppen waren und sind, so lässt sich aus der Aidskrise dennoch eine Erfahrung für die derzeitige Gesundheits- und Sorgekrise politisch nutzbar machen: Im Juni 1988 fand in Frankfurt der Aktionstag „Solidarität der Uneinsichtigen“ statt. Dort versammelten sich Schwule, Prostituierte, Junkies und ihre Unterstützerinnen und Unterstützer und stellten sich gegen die damals vorherrschende repressive Aids-Politik, die Einzelne und ihre individuellen Leidenschaften verurteilte, anstatt die gesellschaftlichen Bedingungen anzuklagen. „Ich verzweifele an allen“, so damals Karl-Georg Cruse von der Deutschen Aids-Hilfe, „die ganze Menschengruppen als Unbelehrbare, Uneinsichtige und Desperados verurteilen, statt offen, sorgend und stützend auf ihre Mitmenschen zuzugehen.“
Politisierte und radikale Fürsorge steht auf der Seite der Subjekte und ihrer Leidenschaften, heftet ihre Solidarität sowohl daran, den Alltag zu organisieren, als auch an die Kämpfe der Prekarisierten und Proletarisierten. Von den Krisenfolgen hart getroffen werden die prekär Beschäftigten im Kulturbetrieb, die jetzt noch heftiger Ausgepressten in der Logistikbranche und bei Lieferdiensten, die schon vor der Pandemie unter Ausnahmezuständen leidenden Beschäftigten, Patientinnen und Patienten im Gesundheitswesen, die Geflüchteten in den Lagern, die Gefangenen in den Justizvollzugsanstalten und die der Gewalt ihrer Partner und Eltern ausgesetzten Frauen, Kinder und Jugendlichen. An diesen Zuständen ist unheimlich, dass sie so nicht sein müssten. Solidarität heißt, das grundsätzlich Falsche zu benennen und gemeinsam zu kritisieren und abzuschaffen. Das ist weitaus mehr als Seuchenschutz.
Marco Kammholz ist staatlich anerkannter Jugend- und Heimerzieher und Sexualpädagoge (gsp). Er ist Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung und studiert Erziehungswissenschaft (B.A.) an der Universität zu Köln. Der Beitrag wurde zuerst am 16. April 2020 in der Jungle World veröffentlicht.