Die vielen Sprachen der Solidarität

Praktiken der Solidarität

Die vielen Sprachen der Solidarität

Pixabay | wilhei

Dietmar Süß

Was ist nun mit ihr, der Solidarität? Ist sie mehr geworden in der Krise – oder weniger? Hat uns die Krise zusammenrücken lassen oder aus uns neue Wölfe gemacht? Die Konjunktur der Solidaritätssemantiken ist ein erstaunliches Begleitphänomen unserer Tage im Zeichen des Virus – und genauso erstaunlich ist es, für wie viele Bedeutungen der Solidaritätsbegriff herhalten muss. In den Reden zur Lage der Nation gilt er als moralischer Imperativ, als Auftrag, ältere Menschen und all jene zu schützen, die mit Vorerkrankungen leben. In den Worten Angela Merkels: „Da sind unsere Solidarität, unsere Vernunft, unser Herz füreinander auf eine Probe gestellt.“ Solidarisch sein – das kann jedenfalls in diesen Tagen sehr viel bedeuten: Nachbarschaftliche Hilfe, Blaskapellen vor Altenheimen, digitale Nachhilfe für geplagte Schüler im Homeschooling. Und natürlich: Distanz halten, Abstand wahren. Das ist vermutlich die merkwürdigste Verwandlung eines Begriffs, dessen Bedeutungsinhalt vor nicht allzu langer Zeit vor allem darauf abzielte, gruppen- oder klassenspezifische Verbundenheit zu beschreiben, ein Gefühl moralischer Verpflichtung und das daraus abgeleitete Empfinden, gemeinsam legitime Ziele durchzusetzen. Körperliche Distanz als Ausdruck von Solidarität – das ist die radikale Umkehr all jener Erfahrungen, die mit dem Begriff in seinen vielen Schichten bisher verbunden war.

Im Kampf um die „richtige“ Solidarität entzünden sich derzeit Grundfragen der Krisenbewältigung, es geht mithin um die sozialen, ökonomischen und politischen Kosten gegenwärtiger globaler Verwerfungen. Und auch diejenigen, die aus guten Gründen die zynische europäische Abschottungspolitik kritisieren und dafür immer weniger medialen Resonanzboden finden, gebrauchen den Begriff vielfach zunächst als eine normative Kategorie, dafür, was derzeit alles falsch läuft an den Außengrenzen, für den Mangel an Gemeinsein und die Politik der sozialen Entrechtung. Solidaritätsdebatten waren und sind immer auch Konflikte um gesellschaftliche Verteilungsfragen. Insofern ist das Virus zwar neu, die semantischen Schlachten um die Verwendungsweisen des Solidaritätsbegriffs sind es eher nicht.

Solidarität als sozialstaatliche Norm, als semantischer Code und soziale Praxis – all diese verschiedenen Dimensionen des Begriffs verschwimmen derzeit und sorgen nicht gerade für mehr Klarheit. Vielleicht hat der Solidaritätsbegriff aber doch noch mehr als einen vermeintlich wohlig-warmen Beiklang zu bieten für eine Analyse unserer Gegenwart. Denn es bleibt doch erstaunlich, weshalb der Begriff ganz offenkundig seinen leicht verbrauchten Charme der 1970er Jahre wiedergewonnen hat und nun ganz unschuldig das Gute und Gerechte zu beschreiben scheint. Wenn beinahe jede Morgensendung im Radio mit einem Verweis auf die „Solidarität“ beginnt, sollte uns das eher stutzig machen. Natürlich: Ganz weg war die Solidarität nie. Im Gegenteil: Sie hat eine radikale semantische Pluralisierung erfahren, sodass selbst die politische Rechte ihre Sogwirkung für sich entdeckt und sie in ihren Sprachgebrauch integriert hat. Gut möglich, dass diese Verflüssigung des Begriffs auch etwas mit den sich verändernden sozial-moralischen Bindungen seit 1945 zu tun hat und die Rede von der Solidarität auch Ausdruck dieser spezifischen Verlusterfahrung ist, die in Krisenzeiten ihre radikale Zuspitzung erfährt.

Womöglich lassen sich ja mehrere Zugriffe unterscheiden: Bleibt man bei der Vorstellung, Solidarität als eine spezifische soziale Praxis zu verstehen, macht man einige bemerkenswerte Beobachtungen. Beispielsweise steckt in den unterschiedlichen Hilfsangeboten gerade für Ältere ja doch eine Form generationsübergreifender Unterstützung, die zumindest – nach den Jahren der Hegemonie des demographischen „Generationskonflikts“ seit den 1990er Jahren – einen anderen Akzent setzt und andere Formen wechselseitiger Verbundenheit vermittelt. So abgedroschen die „Solidarität der Generationen“ als Begriff sein mag, so kurzlebig diese Initiativen womöglich sind und so sehr sich verschiedene machtpolitische und ökonomische Motive überlagern: Ganz übergehen sollte man sie nicht. Vielleicht hilft hier trotz aller Schwierigkeiten noch einmal die alte Unterscheidung zwischen sozialer und politischer Solidarität weiter, die auf unterschiedliche Bezugssysteme und Reichweiten solidarischen Handelns verweist. Denn wie lässt sich begreifen, warum in anonymen Hochhäusern auf einmal Listen in den Fahrstühlen hängen, in denen sich erkrankte Personen eintragen können, damit für sie eingekauft wird? Ein unmittelbares Gegenüber hat diese soziale Beziehungsweise ja nur sehr indirekt und in diesem Verhalten wird man schwer einen politischen Kampf ausmachen. Gleichwohl sind sie doch ebenso relevant für unsere Gegenwart wie die vielen kleineren und größeren Alarmmelder seuchenpolizeilichen Fehlverhaltens, die den Nachbarn wegen des unangemeldeten Besuches bei den staatlichen Dienststellen melden oder die Jogger, die nicht genügend Abstand halten.

In den ersten Wochen des Shutdown war die Sehnsucht mit Händen zu greifen, die Krise würde die Deutschen – nach den heftigen innenpolitischen Konflikten der Vergangenheit – gewissermaßen wieder neuerlich zusammenrücken lassen. Und gerne bemühte mancher Gelehrte dann sogar noch die vermeintliche Solidarität in den Luftschutzkellern des Bombenkrieges als historische Analogie – die Krise als Vergemeinschaftungsmaschine. Doch inzwischen ahnen viele, dass diese Krise neue und alte Ungleichheiten produziert, und dass Solidarität etwas kostet – und auch kosten darf, handelt es sich eben bei Solidarität um den Ausdruck einer wechselseitigen Beziehungsweise, die das voneinander abhängig sein und das Gespür einer moralischen Verpflichtung in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt.

Wie hoch diese Kosten für viele zu sein scheinen, lässt sich daran beobachten, wie massiv Formen transnationaler solidarischer Praktiken blockiert und erschwert wurden. Für diejenigen, die sich mit jenen verbunden fühlen, die außerhalb nationalstaatlicher, gar europäischer Grenzen leben, gibt es derzeit beinahe ein staatlich verordnetes Empathieverbot, sodass es bereits die vorläufige Rettung weniger unbegleiteter Flüchtlingskinder als spektakuläre Meldung in die Tagesschau schafft. Das Universelle im Partikularen solidarischer Praktiken hat es derzeit besonders schwer. Auch das, wird man sagen können, ist vielleicht nicht neu, aber deshalb nicht weniger bedrohlich.

Der Solidaritätsbegriff dient derzeit gewissermaßen als positiver Kitt des seuchenpolizeilich eingeschränkten Alltags. Auch das ist ein merkwürdiges Paradox unserer Gegenwart: Soziales Handeln, das in seinen Einschränkungen zugleich eine spezifische Form der staatlichen (und zivilgesellschaftlichen) Aktivierung erfährt. Umso genauer sollte man zuhören, wer das große Wort der Solidarität im Munde führt. Vielleicht ist es am Ende wie so oft, dass die Sprachen der Solidarität mehr über den Sprechenden offenbaren als diese sich wünschen dürften.

Dietmar Süß ist Professor für Neuere und Neuste Geschichte an der Universität Augsburg.

 

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