Solidarität in der Sackgasse: Die Rechte von Geflüchteten in Zeiten von Corona und darüber hinaus

Praktiken der Solidarität

Solidarität in der Sackgasse: Die Rechte von Geflüchteten in Zeiten von Corona und darüber hinaus

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Hannah Sommer und Adam Yamani

Der Begriff der Solidarität wird in der Corona-Krise oft herangezogen: sei es in Bezug auf Nachbarschaftshilfe oder die Unterstützung von Personen, die zur Risikogruppe gehören. Dabei fehlt auch nicht, dass Solidarität mit Social Distancing in Zusammenhang gebracht wird: Solidarisch-Sein heißt auf Abstand gehen.

Eines der vielen Beispiele zeigt sich bei der Erntehelfer*innen-Debatte; in diesem Zusammenhang sagte die Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner in einem Interview am 25. März 2020: „Da geht es um die Frage ob diejenigen, die ein Arbeitsverbot haben, aber in Deutschland sind, wie zum Beispiel aus sicheren Herkunftsländern, ob diese Personengruppe nicht, auch wenn sie geeignet ist, und auch will, auch mit aufs Feld geht, der Meinung bin ich ganz klar ja, in so einer Situation heißt Solidarität nicht Einbahnstraße, sondern von beiden Seiten“. Bei dieser Aussage stellt sich zunächst die Frage, was hier die Einbahnstraße wäre (oder bisher war)? Gab es in den letzten Monaten eine einseitige „Solidarität“ des deutschen Staates gegenüber Geflüchteten, die von diesen bislang nicht erwidert wurde? Beweist der Staat dadurch seine außerordentliche Solidarität mit Geflüchteten, indem er einzelnen erlaubt, zeitweilig Arbeiten zu verrichten, für die sich kaum jemand anderes bereitfindet? Sollen sich „die Asylbewerber“ endlich auch einmal solidarisch zeigen, indem sie „unseren Landwirten“ bei der Ernte helfen, auch wenn sich nach Auskunft einiger bayerischer Ausländerbehörden nichts an der Erteilung der Arbeitserlaubnisse geändert hat? Und was geschieht nach der Erntezeit, wenn – so die Idee – die Arbeitserlaubnisse nur befristet gelten? Wieder Arbeitsverbote und drohende Abschiebung?

Klöckners Äußerung legt nahe, dass es bei dieser von der Bundesregierung geforderten top-down „Solidarität“ primär darum geht, politische Entscheidungen zu legitimieren. Am Anfang des Interviews spricht die Bundeslandwirtschaftsministerin darüber, dass es – neben der Problematik der Reisebeschränkungen – auch gesundheitspolitisch nicht vertretbar sei, dass die Erntehelfer*innen wie sonst üblich in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden, in denen sie „nah beieinander“ sind und sich Küchen und Bäder teilen. Dabei stellt sich die Frage, warum dies aus Sicht der Bundesministerin für Erntehelfer*innen aus osteuropäischen Staaten nicht vertretbar ist, während beengte Gemeinschaftsunterkünfte auch zu Zeiten der Corona-Krise unhinterfragt die gängige Unterbringungsart für Asylsuchende bleiben. Dabei sei dahingestellt, wie die Situation der Erntearbeiter*innen in der Realität des Arbeitseinsatzes tatsächlich aussieht. Dieser hier aufscheinende rhetorische Unterschied in der Bewertung führt zur Frage, welche Regeln aktuell für wen und in welchem Kontext gelten; außerdem besitzen nicht alle Menschen die gleichen Schutzmöglichkeiten vor dem Virus. So ist Social Distancing schlicht nicht möglich in Gemeinschaftsunterkünften. In Bremen haben deswegen Geflüchtete vor ihrer Unterkunft, in der sich je sechs Personen einen Schlafraum teilen, gegen die Unterbringung in Massenunterkünften demonstriert. Von der Polizei wurden sie angezeigt, der Grund: sie hätten gegen die Einhaltung der Mindestabstände und somit gegen das Infektionsschutzgesetz verstoßen. Dass die Bedingungen der Unterbringung per se dem Infektionsschutzgesetz verstoßen, wird nicht geahndet. Das heißt: wenn die Bewohner*innen außerhalb der Unterkunft demonstrieren, gelten andere Regeln, als für ihr tägliches Leben innerhalb der Unterkunft.

In der aktuellen Krise zeigt sich, dass die nationale Zugehörigkeit maßgeblich darüber entscheidet, ob es Menschen überhaupt möglich ist, empfohlene Schutzmaßnahmen umzusetzen oder wie gut oder schlecht ihr Zugang zum Gesundheitssystem ist. Letzteres lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: Am 24. März 2020 beschloss die Bayerische Staatsregierung mit der Begründung des Infektionsschutzes ein Betretungsverbot für die Sozialdienste in den staatlichen Unterkünften. Die Sozialdienste stellen eine wichtige Anlaufstelle dar, die geflüchteten Menschen hilft, ihre Rechte wahrnehmen zu können. In der Folge des Betretungsverbotes fehlt den Bewohner*innen somit u.a. der über die Sozialdienste vermittelte Zugang zum Gesundheitssystem, zum Teil mit fatalen Konsequenzen, wenn Personen tatsächlich mit dem Corona-Virus infiziert sind. Gleichzeitig aber gibt es Unterkünfte, die entweder komplett oder stockwerksweise unter Quarantäne gestellt wurden. Dabei sind also Menschen pauschal von Quarantäne-Maßnahmen betroffen, die weder  Symptome aufweisen noch Kontakt zu erkrankten Personen hatten. Die Einhaltung der Quarantäne-Maßnahmen wiederum wird durch die Sicherheitsdienste vor Ort überwacht. Für die Sicherheitsdienste gilt – im Gegensatz zu den Sozialdiensten – kein Betretungsverbot. Diese widersprüchliche Handhabung spiegelt auch wider, welche Aufgaben und Akteur*innen der Auffassung der Bayerischen Staatsregierung nach systemrelevant sind, und welche nicht: Der Durchsetzung der Hausordnung durch den Sicherheitsdienst wird ein höherer Stellenwert eingeräumt als dem Zugang zu einer unabhängigen und den geflüchteten Menschen zustehenden Sozial-, Gesundheits- und Rechtsberatung durch die Sozialdienste. Mit dieser Entscheidung bestätigt die Landesregierung neuerlich ihren restriktiven Kurs in der Asyl- und Migrationspolitik der letzten Jahre.

 

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Ein Blick über den nationalen Tellerrand zeichnet darüber hinaus ein düsteres Bild im Hinblick auf die transnationale Solidarität innerhalb der EU. Während die deutsche Bundesregierung zunächst zugesagt hat, lediglich 47 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (umFs) von den griechischen Inseln aufzunehmen, werden parallel im April und Mai nun doch je 40.000 Erntehelfer*innen mit Sonderflügen aus Südosteuropa eingeflogen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, wie eine generelle Einreisesperre sich überraschend leicht aufweichen lässt, wenn es um ökonomische Interessen geht. Die 80.000 Erntehelfer*innen stehen hier sinnbildlich nicht nur für die Gewährleistung einer kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, sondern die Bundesregierung stärkt mit dieser Maßnahme ebenfalls einen Sektor, welcher bereits hoch subventioniert wird und die Landwirtschaft in anderen Teilen außerhalb der EU benachteiligt. Zugleich muss berücksichtigt werden, dass die landwirtschaftlichen Kleinbetriebe oft lediglich einen minimalen Anteil am Preis des fertigen Produkts erhalten und zurzeit mit besonderen Existenzängsten gegenüber der mächtigen Lebensmittelindustrie zu kämpfen haben. Außerdem fällt auf, in welchem Eiltempo die Bundesregierung eine temporäre Flexibilisierung der Arbeitszeiten in diesem Zusammenhang beschlossen hat. Demgegenüber steht die über Monate verhandelte Entscheidung der Bundesregierung, aus den vollkommen überfüllten Lagern in Griechenland zunächst (?) 47 unbegleitete Kinder aufzunehmen. Siebenundvierzig. Während die Bewohner*innen in den griechischen Lagern dem Virus ohne jeglichen Schutz ausgeliefert sind und die deutsche Politik sich zugleich dafür lobt, eine beschämend kleine Zahl aufzunehmen, ignoriert sie zugleich die mittlerweile über 100 Kommunen und Bundesländer, die sich zu sicheren Häfen erklärt haben und explizit fordern, mehr Menschen aufzunehmen. Zeitgleich holt die Bundesregierung innerhalb kürzester Zeit mehrere Hunderttausende deutsche Staatsangehörige weltweit aus dem Urlaub nach Deutschland zurück und kommt somit einer nationalistisch konstruierten Logik nach, dass der Staat den Schutz seiner Bevölkerung zu garantieren hat.

Doch was ist mit den hier lebenden geflüchteten Menschen, die in den isolierten Unterkünften nicht zu ihren Rechten kommen, oder den Menschen auf den griechischen Inseln? Hier zeigt sich die menschenverachtende, antisolidarische Geflüchteten-Politik Deutschlands und der EU. Dem Schutz durch eine nationale Zugehörigkeit wird hier ein höherer Stellenwert zugemessen als dem Schutz der Menschen und ihrer Unversehrtheit. Denn während Staatsbürger*innen gewisse Rechte besitzen und rechtlich einklagen können, können geflüchtete Menschen nicht von diesen Rechten Gebrauch machen. Vor dem Hintergrund dieser Ungleichheit stellt sich die Frage, wie eine tatsächliche (transnationale) Solidarität aussehen könnte. Und ob es sich bei der von Seiten der Bundeslandwirtschaftsministerin anfangs zitierten Solidarität tatsächlich um eine solche handelt oder ob hier nicht vielmehr unter dem Deckmantel der Solidarität Maßnahmen legitimiert werden, die offensichtlich den eigenen ökonomischen Interessen nutzen sollen und der Stabilisierung eines Systems struktureller Ungerechtigkeit dienen.

Hannah Sommer und Adam Yamani sind Mitarbeitende des Münchner Flüchtlingsrates.

 

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