Globale Solidarität in Zeiten alltäglicher und akuter Krisen

Praktiken der Solidarität

Globale Solidarität in Zeiten alltäglicher und akuter Krisen

TeeFarm | pixabay

Bernd Bornhorst

Hierzulande geht es meist um den Zusammenhalt der Gesellschaft, wenn über Solidarität gesprochen wird. Man nimmt Einschränkungen gemeinsam hin und hofft auf ein baldiges Überstehen der Krise. Diese soziale Solidarität hat Michael Reder bereits im ersten Beitrag zu diesem Blog kritisiert, da sie oftmals bestimmte politische Faktoren vernachlässigt und sich auf die nationale Gemeinschaft beschränkt. An dieser Stelle soll sich auf die politische Solidarität konzentriert werden. Diese Form der Solidarität richtet den Blick über Grenzen hinweg nach vorne und stellt sich die Frage, wie in Zeiten der Krise politische Lösungen für tieferliegende Probleme gefunden werden können.

Solidarisches Handeln muss sich immer an den Verwundbarsten und am stärksten Betroffenen orientieren. Besonders im Globalen Süden sind die gesellschaftlichen Systeme oftmals nicht auf eine Pandemie vorbereitet. Bereits vorher schlecht aufgestellte Bereiche wie das Gesundheitswesen sind schnell überlastet. Es mangelt an Infrastruktur, Personal und Ausrüstung. Im Südsudan beispielsweise gibt es für elf Millionen Menschen ganze vier Beatmungsgeräte. Von dem mangelhaften Zugang zu Seife und fließendem Wasser für die Bevölkerung ganz zu schweigen. Auch im Bildungswesen und den sozialen Sicherungssystemen zeigt sich deutlich die strukturelle Unterversorgung, die besonders die Ärmsten betrifft.

In akuten Notsituationen bedarf es zunächst der finanziellen und technischen Unterstützung, um den Virus unter Kontrolle zu bringen. Sowohl im Gesundheitswesen als auch bei der Versorgung alltäglicher Bedürfnisse, die von Staaten teilweise nicht mehr gewährleistet werden kann. Ein besonderes Augenmerk muss hier auf Regionen liegen, die bereits vorher unter humanitären Krisen litten, wie zum Beispiel Syrien oder der Jemen. In Flüchtlingslagern droht eine humanitäre Katastrophe, wenn diese nicht aufgelöst und Geflüchtete geschützt werden. Grundsätzlich gilt, dass bei allen Maßnahmen die spezifischen Bedürfnisse aller marginalisierten und vulnerablen Gruppen im Fokus stehen müssen. Hierzu gehören unter anderem Kinder, Mädchen und Frauen, Menschen mit Behinderungen oder ältere Menschen. Während der Ebola-Epidemie in Westafrika beispielsweise starben mehr Frauen aufgrund der zusammengebrochenen Gesundheitsversorgung bei Geburten als unmittelbar an dem Ebola-Virus.

Es kann derzeit aber nicht nur darum gehen, die gesundheitliche Krise zu überwinden und so schnell es geht zur „Normalität“ zurückzukehren. Die herrschenden politischen und ökonomischen Missstände und ihre Ursachen zu ignorieren würde bedeuten, der nächsten Krise genauso verwundbar gegenüber zu stehen.

Es ist absurd, dass eine Gesundheitskrise erst das alltägliche Leben zum Stillstand bringen muss, damit es einen signifikanten Rückgang bei der globalen Produktion und dem Konsum gibt. Und dass, obwohl Klima- und Umweltschutz inzwischen von einer breiten Öffentlichkeit getragen werden. Wenn nun über die Wiederbelebung der Wirtschaft diskutiert wird, ist analog zur letzten Finanzkrise sofort wieder eine „Abwrackprämie“ im Spiel. Ein ökologisches Desaster. Diese Maßnahme ist ein Paradebeispiel für eine imperiale Lebensweise, die sich auf die Ausbeutung der Ressourcen und Arbeitskräfte im globalen Süden stützt. Kosten werden konsequent auf die schwächsten Glieder abgewälzt. In der Textilindustrie zum Beispiel ist die Lage derzeit äußerst prekär. In Bangladesch wurden bis Ende März eine Million Menschen in diesem Sektor entlassen. Der Grund dafür war nicht der Infektionsschutz, sondern plötzliche Auftragsstornierungen großer Einzelhandelsketten wie Primark oder C&A. Abfindungszahlungen gab es für 80 Prozent der Entlassenen nicht. Durch die schon vorher viel zu niedrigen Löhne haben die Arbeiter_innen und ihre Familien keine Rücklagen und sind durch fehlende soziale Sicherungssysteme akut von Armut betroffen. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie wichtig Regelungen sind, die menschenrechtliche Sorgfaltspflichten verbindlich festlegen. Aktuell besteht jedoch die Gefahr, dass die Corona-Krise als Vorwand genutzt wird, um gesetzliche Bestimmungen in den internationalen Lieferketten zu verhindern. Dabei sollte gerade die aktuelle Situation genutzt werden, um neue Pfade einzuschlagen. Alle wirtschaftlichen Unterstützungsmaßnahmen müssen auf eine sozial verträgliche und nachhaltige Art des Wirtschaftens ausgerichtet sein.

Solidarität bedeutet an dieser Stelle, nicht die Augen vor den eigenen Privilegien zu verschließen. Wir müssen anerkennen, dass unser Lebensstil unabhängig von der Corona-Krise alltäglich viele Opfer fordert und die Grenzen der Belastbarkeit unseres Planeten überschreitet. Somit stehen auch wir in der Verantwortung, unsere wirtschaftlichen und sozialen Systeme so umzugestalten, dass sie gemeinwohlorientierten und nachhaltigen Grundsätzen folgen.

Bernd Bornhorst ist Vorstandsvorsitzender des Verbandes Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe (VENRO) und Leiter der Abteilung Politik und globale Zukunftsfragen bei MISEREOR.

 

2 Antworten

  1. Danke für diesen Artikel! Es bleibt abzuwarten, wie wir mit all den Problemen umgehen, die Corona schonungslos aufdeckt. Ihre Fazit: „Solidarität bedeutet an dieser Stelle, nicht die Augen vor den eigenen Privilegien zu verschließen. Wir müssen anerkennen, dass unser Lebensstil unabhängig von der Corona-Krise alltäglich viele Opfer fordert und die Grenzen der Belastbarkeit unseres Planeten überschreitet.“ werde ich mir ausdrucken und aufhängen.

  2. […] Beitrag ist zuerst auf dem Blog Praktiken der Solidarität erschienen und wird hier in leicht veränderter Form erneut […]

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